SALZ. TON. GRANIT.
Über nukleare Vergangenheiten
und strahlende Zukünfte
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Künstlerische Forschung
und Ausstellung

Krisztina Erdei mit Dániel Misota

Foto vom Filmdreh Taking Time © Kristztina Erdei

Sich Zeit nehmen

3-Kanal-Video, 2024

In einer Videoinstallation verbindet sich der langfristige Austausch der Künstlerinnen Krisztina Erdei und Dániel Misota mit der Dorfgemeinschaft von Bátaapáti. Seit 2011 beheimatet die Gemeinde im ungarischen Landkreis Tolna ein Endlager für schwache und mittelradioaktive Abfälle. Die künstlerische Recherche untersucht die komplexen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen die das Endlager auf das Leben in der Gemeinde hat. Dabei werden die Beteiligung der Dorfgemeinschaft, künstlerische Intervention und persönliche Erzählungen miteinander verwoben. Dabei legen Krisztina Erdei und Dániel Misota ihr Hauptaugenmerk auf die privaten und nicht-offiziellen Geschichten der Dorfbewohnerinnen, die ihren Alltag im vermeintlich bedrohlichen Schatten des Atommülllagers verbringen. Über ein Jahr lang kehrten die Künstlerinnen regelmäßig nach Bátaapáti zurück und haben persönliche Beziehungen zu Bewohnerinnen aus unterschiedlichen Generationen und mit unterschiedlichen Hintergründen aufgebaut. Aus diesem Austausch entstand eine Sammlung von persönlichen Geschichten, die widerspiegeln, wie unterschiedlich in der turbulenten Geschichte Bátaapáts in den vergangenen zweihundert Jahren gelebt, gearbeitet und geliebt wurde. Die individuellen Erzählungen stehen den politisch und wirtschaftlich bedeutsamen und „großen”Erzählungen gegenüber. Dieser Gegensatz wird im Rahmen der künstlerischen Arbeit untersucht, berücksichtigt wird dabei, wie die Existenz des Endlagers das kollektive Gedächtnis, den Umgang mit geteiltem Raum und die alltäglichen Begebenheiten in der Gemeinde verändert.

Der zentrale Film der 3-Kanal-Videoinstallation porträtiert die Gemeinde Bátaapáti durch die Aneinanderreihung kurzer Filmszenen in denen die bereits beschriebenen gesammelten Geschichten durch die Dorfbewohnerinnen mitgestaltet und nachgestellt werden. Die Schauplätze und Protagonistinnen werden von den Künstler_innen durchgewechselt, wodurch eine dynamische Betrachtung der geteilten Geschichte der Dorfgemeinschaft entsteht. Gleichzeitig konfrontieren die unterschiedlichen Momentaufnahmen die enorme Zeitlichkeit, die sich durch die Halbwertszeit der nahegelegenen radioaktiven Abfälle ergibt. 

Dieser komprimierten Betrachtung der Mikrogeschichte von Bátaapáti werden zwei sich langsam bewegende, fast statische Szenen beiseite gestellt. Eine zeigt das Innenleben des Endlager, die Kamera erkundet die organische Textur der Wände der unterirdischen Tunnel erkundet und kontrastiert sie mit den sorgfältig gefertigten Kisten für radioaktive Abfällen. Die zweite Szene verweilt auf dem Kirchturm von Üveghuta, einsam gelegen in einem Wald in der Nähe von Bátaapáti. Die Kirche ist das einzige Relikt eines einst lebendigen Dorfes der in Ungarn lebenden deutschen Minderheit, und dessen Hinterlassenschaften sonst vollständig von der Natur zurückerobert wurden. Der Turm ist ein Zeugnis lokaler historischer Veränderungen. Durch den Zusammenbruch des Weinbaus erlebte die Region zu Beginn des 20. Jahrhundert einen rasanten wirtschaftlichen Niedergang, der durch die Zwangsumsiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg noch verstärkt wurde.

Die Gegenüberstellung dieser beiden unterschiedlichen Umgebungen - das Endlager für radioaktive Abfälle und die verlassene Siedlung - regt zum Nachdenken an. Wie flüchtig wirken menschliche und persönliche Anliegen und Wünsche zwischen den großen Erzählungen der Geschichte? Und wie erscheinen sie im Abgleich mit den unergründlichen und übermenschlichen Ausmaßen, der “deep time” nuklearer Zeitlichkeiten?

Die Arbeit reflektiert, wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verwoben sind und betrachtet das Spannungsfeld zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Kräften im Anthropozän. Gleichzeitig stellt sie offizielle und wissenschaftliche Dokumentationen und historischer Erzählungen in Frage, indem sie individuelle Narrative über die Objektivität von Archivmaterial stellt. Dadurch entsteht ein Dialog zwischen dem lokalen Kontext und globalen Themen wie Ökologie, radioaktiver Halbwertszeiten und den Auswirkungen menschlichen Handelns auf die Umwelt. Das komplexe soziale und kulturelle Gefüge in der Region befeuern im Rahmen der künstlerischen Arbeit kritische Fragen über die Beziehung zwischen materiellen Beweisen und persönlichen Erinnerungen. Die Videoarbeit ist ein eindringlicher Kommentar dazu, wie menschgemachte Strukturen, wie etwa das Endlager - der „Atomfriedhof“ -, den zeitlichen Horizont Bátaapátis in eine unvorstellbare Zukunft verlängern und die Vergänglichkeit menschlichen Lebens mit einem dauerhaften radioaktiven Erbe konfrontiert wird.

Besonderer Dank an Réka Kuris, Attiláné Kuris, Jázmin Kuris, Dávid Durgonics, BalázsZele, Kata Kocsor, Zsófia Margetin, Levente Farkas, Tamás Farkas , Artúr Forrai, Martin Braun, Mirtill Forrai, Attila Schafer, János Nagy, Mónika Illésné Nagy, Csaba Illés, János Horváth, Jánosné Horváth, Sándor Torac, József  Utasi, József  Sári, Józsefné Sári, Sándorné Oláh, Elizabet Víg, Izabell Víg, Anett Vígné Csereklei, Gábor Máté, Dorottya Tóth, Zsoltné Tóth, Gábor Tornóczky, Gáborné Tornóczky, András Zele, Andrásné Zele, Zoltán Ferenczi, Zoltán Kern und an die Schüler_innen der lokalen Grundschule.

Installationsansicht © Virág Major-Kremer / SALT. CLAY. ROCK
Installation view SALT. CLAY. ROCK © Lucie Marsmann

KRISZTINA ERDEI (Budapest) ist bildende Künstlerin. An der Universität Szeged studierte sie Philosophie und an der Moholy-Nagy-Universität für Kunst und Design promovierte sie im Bereich Multimediakunst zum Thema „Kampf um deine Geschichte. Studien der Erinnerung und zeitgenössische Kunst im 21. Jahrhundert“. Weitere Schwerpunkte sind visuelle Kultur sowie interdisziplinäre und kollaborative Kunstpraktiken. Indem sie erforscht, wie Kommunen und Gemeinschaften zusammenhalten und sich vernetzen, sucht sie nach den bestimmenden Merkmalen, die kollektives Handeln formen und ermöglichen. Aktuell studiert Erdei an der Doktorandenschule für Philosophie der Eötvös Loránd Universität und arbeitet als Assistenzprofessorin an der Partium Christian University und als Kunstkritikerin für das satirische Wochenmagazin Magyar Narancs. Ihre Arbeiten mit Kommunen und deren Menschen entstehen durch Krisztina Erdei‘s große Sensibilität. Obwohl sie offen für verschiedene Medien ist, arbeitet sie dabei vor allem fotografisch aus einem kritischen Blickwinkel heraus. Ihre Bilder scheinen zwanglos, instinktiv, oft zufällig zu entstehen, beim genaueren Betrachten zeigen sich jedoch komplexe Zusammenhänge. In ihren vielschichtigen Werken lädt sie die Betrachter_innen aktiv dazu ein, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen, während sie meinungsstark und zugleich wohlwollend die Grundwerte der humanistischen Fotografie heraufbeschwört und sie im Kontext des 21. Jahrhunderts neu interpretiert.

http://krisztinaerdei.com/

DÁNIEL MISOTA (Budapest, geboren 1992) ist ein Filmemacher und Medienkünstler aus Budapest, der in seinen Arbeiten Filmstil als künstlerischen Mittel zur kritischen Auseinandersetzung auslotet. Nach seinem Abschluss an der Moholy-Nagy-Universität für Kunst und Design im Jahr 2022 arbeitete er europaweit als Kameramann an verschiedenen Kunst-, Film- und Fernsehprojekten. Dabei kam es zu eindrucksvollen Kooperationen mit Joseph Tasnadi’s  „La Primavera“ und mit Talya Feldman bei ihrer Mehrkanal-Filminstallation „Psithurism“. Sein Dissertationsfilm „Mária Kerényi, 41, Juli 1970“ - ein Reenactment eines Propagandafilms aus den 1970er Jahren – war im MODEM Zentrum für moderne und zeitgenössische Kunst in Debrecen im Rahmen der Ausstellung „Re:Re: Künstlerische Re-Inszenierungen, die Kunst der Re-Inszenierung“ zu sehen. Derzeit promoviert er zu emanzipatorischen filmischen Formen. https://www.instagram.com/daniel_probablement/

Krisztine Erdei und Dániel Misota in Bátaapáti