Anna Witt

Tanz auf dem Vulkan
zweiteilige Video-Installation, 2024
Anna Witts zweiteilige Videoinstallation nimmt ihren Ausgangspunkt im Wendland, wo die Gemeinde Gorleben zum Symbol der Anti-Atomkraft-Bewegung und zu einem der Kristallisationspunkte der Auseinandersetzung um die Nutzung von Atomenergie in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) wurde. Nachdem 1977 das ehemalige Salzbergwerk bei Gorleben als Standort für ein Nukleares Entsorgungszentrum benannt worden war, entwickelte sich im Wendland eine der bedeutendsten und nachhaltigsten und gesellschaftlich breit aufgestellten Protestbewegungen in Westdeutschland in der Nachkriegsgeschichte. Anna Witt untersucht, wie sich kollektive Formen des Protests über Generationen hinweg in die Körper und Biografien von Aktivist_innen und deren Familien eingeschrieben haben, wofür sie u.a. im Gorleben-Archiv recherchierte.
Der Titel der Arbeit “Tanz auf dem Vulkan” ist eine international geläufige Metapher, die ein riskantes Verhalten trotz drohender Gefahren beschreibt und ihren Ursprung in einer Aussage des französischen Publizisten Narcisse-Achille de Salvandy hat, der den maßlosen, überschwänglichen Konsum des Französischen Königshauses angesichts der aufkeimenden Französischen Revolution kommentiert. Ein Verhalten, das mögliche Parallelen zur mehrheitlichen Haltung gegenüber der drohenden Klimakrise und einer wieder erstarkenden Pro-Atom-Politik ziehen lässt und Gründe aufzeigen, warum sich Menschen aktivistisch engagieren. Im Gorleben-Archiv stieß Anna Witt später auf Material, das zum gleichnahmigen Musikfestival „Tanz auf dem Vulkan am 4. September 1982 gegen den Baubeginn der Zwischenlagerhallen im Gorlebener Wald geplant war. Während dem anschließenden Aktionswochenende wurden von der Polizei zu ersten Mal Hochdruckwasserwerfer eingesetzt um gegen die Protestierenden vorzugehen, mehrere Personen wurden teils schwer verletzt. Ein Verfahren gegen das Vorgehen der Polizei ging bis vor das Bundesverfassungsgericht, wurde jedoch nach 10 jährigem Prozess eingestellt, ohne dass es juristische Konsequenzen gab. In den Augenzeuginnenberichten ziehen die Demonstrantinnen Bilanz und formulieren neben der Beschreibung der Eskalation besonders auch Aspekte für kollektive Lernprozesse aus den Erfahrungen des Widerstands. Vermittelt werden soll, wie in einer Gruppe selbstbestimmte, kollektive Handlungsperspektiven entwickelt werden können. Als Protestform bedeutet das, stehen zu bleiben statt zu rennen, mit der eigenen Angst umzugehen, sich in das Gegenüber hinein zu versetzen, sowie konstant zwischen den gesetzten Zielen und dem Wohl der Gruppe abzuwägen. Diese Strategien umschreiben allesamt Fähigkeiten, die den Kern gemeinschaftlichen Handelns widerspiegeln.
In der performancebasierten, großformatigen Videoinstallation erprobt Anna Witt mit Statistinnen im Gorlebener Forst Praktiken der Solidarität angesichts der Konfrontation mit eines auf sie gerichteten Wasserstrahls. Weniger eine Reenactment der Ereignisse von 1982, will Anna Witt mit der perfomativen Versuchsanordnung das gemeinsame handeln der Aktivistinnen aktualisieren. Der Fokus richtet sich dabei auf die Körperlichkeit kollektiven Handelns. Das Wasser wird im Video zu einer abstrakten Gewalt, der die Gruppe durch gemeinschaftliches Handeln begegnet. Anna Witt interessiert, wie man die Fähigkeit zum kollektiven Handeln aktivieren kann und welche Voraussetzungen dafür notwendig sind. Im zweiten Teil der Videoarbeit wird diese Ebene in die Zukunft weiter gedacht und es sprechen junge Erwachsene aus dem Wendland über ihr Aufwachsen im Widerstand und wie diese Erfahrungen ihre heutige Haltung im Umgang mit komplexen Herausforderungen und dem Kampf ums Klima geprägt haben.
Das Video ist eingebettet in eine Struktur aus gelben Latten, die den Buchstaben X bilden. Das gelbe X steht als Zeichen für den Widerstand gegen die Atommülltransporte, hinter dem sich die Landbevölkerung, die Kirche und angereiste Atomkraftgener_innen im Wendland vereinten. Ursprünglich wurde das gelbe Kreuz 1988 auf Landstraßen und in Vorgärten als medienwirksame Protestform entlang der Strecke der Castor-Transporte von Wackersdorf nach Gorleben aufgebaut. Heute steht das Zeichen für den Tag X, an dem das 1,5-Grad-Klimaziel unerreichbar wird. Damit vereint das Symbol verschiedene Generationen und Teile der Umweltbewegung.
Besonderer Dank an alle Beteiligte des Projektes, die Freiwillige Feuerwehr Gorleben, Freie Bühne Wendland, BI Lüchow-Danneberg, Meuchefitz, Gorleben Archiv, Kulturverein Raum 2ev, EJZ, HBK Braunschweig

ANNA WITT (Wien/ Berlin) wurde 1981 in Deutschland geboren, arbeitet und lebt in Wien und Berlin. In ihrer künstlerischen Praxis – performativ, partizipatorisch und politisch - schafft sie Situationen, in denen zwischenmenschliche Beziehungen und Machtstrukturen ebenso kritisch ergründet wie Konventionen des Sprechens und Handelns. In ihren Performances bindet sie neben Passant_innen im öffentlichen Raum als auch ganz bestimmte Personen und Personengruppen ein, meist auf unmittelbare und körperliche Weise.
Die Aufgabestellungen für ihre jeweiligen performativen Experimente werden gemeinsam mit den Teilnehmenden entworfen und reichen von wiederholter Nachahmung bestimmter kodierter Gesten bis hin zur Erarbeitung komplexer Choreografien.
In den letzten Jahren wurden ihre Arbeiten in zahlreichen Ausstellungen in Österreich, Deutschland und international gezeigt, unter anderem im SEMA Seoul Museum of Art, in der Secession Wien, auf der 1. Wien-Biennale im MAK, in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, im Museum Ludwig, Köln, im Austrian Cultural Forum New York, im Kunstmuseum Wolfsburg und im MOCA Museum of Contemporary Art Taipei. Einzelausstellungen hatte sie im Wiener Museum für zeitgenössische Kunst „Belvedere 21“ Contemporary, in der Kunst Halle Sankt Gallen und der Galerie Tanja Wagner, Berlin, im „Marabouparken“ Museum in Stockholm und im Center for Contemporary Art, Prishtina, Kosovo. Außerdem nahm sie an verschiedenen Biennalen teil, so auch der Aichi Triennale 19, 13, der Lux/ICA Biennale of Moving Images, London, der 6. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst und der Manifesta 7 in Norditalien und ist Gewinnerin des Outstanding Artist Award 2020, des Otto Mauer Preises 2018, des Kunstpreises 'Future of Europe' 2015, des BC21 Art Award 2013 und des Kunstpreises der Columbus Art Foundation 2008.
