Diskussion: Ist digital gleich klimaneutral?
Während unseres Forschungs- und Organisationsprozesses kamen wir immer wieder zu einer merkwürdigen Schlussfolgerung in Bezug auf klimaneutrale Organisation: Es schien so, als ob der klimaneutralste Weg für alles darin bestand, es virtuell zu erledigen, in der digitalen Welt.
Uns wurde gesagt, dass es klimafreundlich wäre, uns online zu treffen statt persönlich. Anstatt einen Ausstellungskatalog oder ein Begleitheft zu drucken, sollten wir bloß eine digitale Veröffentlichung machen. Anstatt Referentinnen und Gästinnen zu unserer Forschungsversammlung einzuladen, wäre es besser, wenn wir diese online organisieren würden. Anstatt eine Ausstellung in den Räumen der nGbK zu organisieren, könnten wir doch eine virtuelle Ausstellung erarbeiten.
Obwohl wir uns aus guten Gründen dazu entschlossen haben, unsere CO2-Emissionen zu reduzieren, kamen uns diese Vorschläge unsozial vor.
„Sunlight Doesn’t Need a Pipeline“ ist ein von Künstler_innen organisiertes Forschungsprojekt zu klimaneutraler Kunstproduktion im Vereinten Königreich. Das erste Ergebnis des Projektes ist: „Alle Wege hin zur Dekarbonisierung müssen zunächst anerkennen, dass die Wurzeln der Klimakrise im rassistischen Kapitalismus liegen (Bhattacharyya, 2018). Jahrhundertelang hat der Kolonialismus und die imperiale Industrialisierung den Planeten Erde und seine Bewohner_innen missachtet, ausgebeutet und kommerzialisiert und so zu weltweiter Ungleichheit geführt.“
Den Kultursektor komplett zu digitalisieren ist eine Art und Weise, den Status quo zu erhalten. Uns gefallen Veranstaltungen in Präsenz, weil sie einen öffentlichen Raum fördern, der Zufälle und neue Möglichkeiten eröffnet. In einem komplett digitalen Programm hingegen setzten sich institutionelle Entscheidungen gegen Zufälle durch.
Obwohl Online-Veranstaltungen und digitale Veröffentlichungen ihren eigenen Wert haben, ist der digitale Sektor insgesamt ein Haupt-Treiber des rassistischen Kapitalismus, der aus dem Kolonialismus und seiner imperialen Industrialisierung entstanden ist, die wiederum den Klima-Alptraum verursacht haben, in dem wir uns befinden.
Die kontraintuitive Logik von klimaneutraler Digitalisierung ist, dass zum Beispiel Online-Konferenzen scheinbar eine kleinere Klima-Belastung haben als eine Konferenz, zu der die Referent_innen per Zug anreisen, da rechnerisch eine Stunde im digitalen Raum weniger klimabelastend ist als eine Stunde Zugreise. Obwohl ein Zug viel klimaneutraler erscheint als ein digitales Netzwerk, sorgen die rechnerischen Größenverhältnisse dafür, dass Zugreisen klimabelastender sind als Online-Sein. Was dabei allerdings nicht bilanziert wird, ist die Größenordnung der Server, Kabel und Kraftwerke: Bilanziert wird nur der kleine Prozent-Anteil der Energie, die gebraucht wird, um online zu sein. Das ist auch bei dem Zug so, aber wegen der unterschiedlichen Größenverhältnisse werden einem bei einer Zugreise verhältnismäßig mehr CO2-Emissionen zugeschrieben.
„Auch wenn technologische Lösungen dazu beitragen, dass die Klimakrise bekämpft wird, sind sie doch gleichzeitig für 1,4 bis 4 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich.“ Analog zu diesem Bilanzierungsweg wird der CO2-Fußabdruck von Big Tech-Firmen durch Berücksichtigung der Klimabilanz ihrer Produkte und Wartungskosten berechnet – anstatt mithilfe der Energie-Infrastruktur, die ihre Produkte und Dienstleistungen benötigen. Obwohl Big Tech-Firmen Strom benötigen, werden sie nicht zum Energiesektor gezählt, und die dort anfallenden CO2-Emissionen fließen ebenso wenig in die Firmen-Bilanz ein. Befürworter_innen der Digitalisierung argumentieren: Je mehr wir digitalisieren, desto nachhaltiger wird unsere Wirtschaft dank eines smarten, digitalen Managements werden. Aktuelle Schätzungen des Weltwirtschaftsforums behaupten, dass digitale Technologien bis zu einem Fünftel aller Emissions-Reduktionen abdecken können, die nötig sind, um bis 2050 das Ziel der Netto-Null in den Bereichen Energie, Materialien und Mobilität zu erreichen.
Das Weltwirtschaftsforum lobt die Digitalisierung ausführlich: „Digitalisierung kann eine Reihe von Lösungen bereitstellen. Zum Beispiel können selbst die größten Windkraftanlagen mit einem einzigen, privaten WLAN ausgestattet werden, sodass sie Wartearbeiten prognostizieren können, Drohnen für die Analyse der notwendigen Reparaturen steuern oder Augmented Reality-Technik erlauben. Folglich müssen Techniker_innen weniger häufig zu Offshore-Anlagen reisen und mehr Turbinen können auf dem Höhepunkt ihrer Auslastung betrieben werden.“
Im Bereich des Windkraftanlagen-Managements ist es möglich, die meisten Dienstleistungen finanziell zu bilanzieren. Aber wenn sich Menschen Kunst ansehen anstelle von Bildschirmen, sehen und fühlen sie mehr, als bilanziert werden kann. Sie sprechen darüber und schmieden Pläne. Ein Effekt von kritischer Kunst und Live-Kultur entsteht durch ihr radikales, transformatives Ziel, neue und gerechte Systeme zu entwickeln. Das ist nicht bilanzierbar, doch zeigt uns die Geschichte, dass dieses Ziel nicht durch die Management-Ideale der kontrollierten Räume erreicht wird, die die Digitalisierung bereitstellt.