Diskussion: Wie kann all diese Arbeit unterstützt werden? Wie bilanziert man die unberücksichtigte persönliche, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit beim klimaneutralen Arbeiten?
Nachhaltigkeits-Studien heben hervor, dass wir uns nicht nur mit ökologischer Nachhaltigkeit beschäftigen sollten, sondern anfangen müssen, auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen zu bilanzieren, wenn wir ein langfristiges Überleben der Menschheit auf der Erde sichern wollen. Auch wenn Klimaneutralität zweifelsohne die dringendste Grundvoraussetzung für jedwede nachhaltige Existenz auf einem Planeten ist, der in Richtung Klimakatastrophe rast, spricht das Prinzip der Klimaneutralität nur einen spezifischen ökologischen Aspekt an. In unserem Projekt standen wir oft vor der Herausforderung, das Ziel der Klimaneutralität gegen andere Nachhaltigkeits-Dimensionen abzuwägen. Kompromisse waren unvermeidbar.
Eine Studie der englischen Organisation Julie’s Bicycle aus dem Jahr 2021 schätzt den jährlichen CO2-Fußabdruck der visuellen Künste auf etwa 70 Millionen Tonnen CO2-Emissionen – weniger als 0,2 Prozent der globalen Emissionen. Diese Emissionen stammen überwiegend von der Besucherinnen-Anreise, dem Energieverbrauch von Gebäuden und dem Transport von Kunstwerken. Öffentliche Kunst-Institutionen tragen etwa 11 Prozent zu der Gesamtsumme bei, allen voran große Organisationen mit ihren internationalen Ausstellungen, ihrem Hang zum Jet-Set-Lifestyle und ihren beachtlichen Besucherinnen-Zahlen. Das veranschaulicht die Größenordnungen und den Kontext, in den wir uns mit unserem transnationalen, aber überwiegend regionalen Projekt mit Fokus auf die binationale Achse Deutschland-Ungarn begaben. In Anbetracht der zweieinhalbjährigen Laufzeit hatte das Projekt ein vergleichsweise bescheidenes Budget.
Weil es in unserem Projekt um Energiezukünfte und das Konzept der „Deep Time“ (der Suche nach Spuren, die über Zeitalter hinweg wirken) aus dem Blickwinkel der atomaren Forschung geht, haben wir die Herausforderung, das zweieinhalbjährige Forschungs- und Ausstellungsprojekt klimaneutral zu organisieren, gerne angenommen. Es wurde jedoch schnell klar, dass dafür ausführliche Recherchen und Lernprozesse notwendig waren, die das Ganze zu einem komplexen und oft auch unmöglichen Unterfangen machten. Einerseits hat der Aufwand, klimaneutrale Lösungen zu finden und umzusetzen, unsere ohnehin schon unterbezahlte Arbeit und den damit verbundenen Stress erheblich erhöht. Andererseits hat uns das bescheidene Budget oft die Möglichkeit genommen, teure klimaneutrale Alternativen zu wählen, ohne einen Kompromiss hinsichtlich des Inhalts und Fokus des Projekts einzugehen. Vor dem Hintergrund dieser Schwierigkeiten haben wir die Mitglieder der Arbeitsgruppe darum gebeten, folgende Fragen zu beantworten, um ihre Erfahrungen und Arbeitsbedingungen zu reflektieren:
1. Wie viele Stunden pro Woche hast du während des Projektes SALZ. TON. GRANIT. (Herbst 2022 – Ende 2024) durchschnittlich gearbeitet (sowohl für das Projekt als auch für andere Tätigkeiten)?
2. Wenn du dein Einkommen durch die Anzahl dieser Stunden teilst, wie hoch wäre deine Bezahlung pro Stunde?
3. Hast du in der Zeit Urlaub gemacht, in der du keine Arbeit hattest? Wenn ja, wie lange?
4. Wie würdest du deine persönliche und wirtschaftliche Nachhaltigkeit in dieser Zeit einschätzen?
5. Gab es Fälle, in denen du für die Klimaneutralität einen Kompromiss auf Kosten von persönlicher oder wirtschaftlicher Nachhaltigkeit oder dem konzeptuellen Fokus des Projektes eingehen musstest? Bitte gib ein oder zwei Beispiele an.
Vier der fünf Mitglieder haben geantwortet. Ihre durchschnittliche, wöchentliche Arbeitsbelastung lag zwischen 8 und 15 Stunden. Wie ein Mitglied des kuratorischen Teams anmerkte, würde die Berechnung des Stundenlohns „einen nur sehr traurig machen“. Tatsächlich wäre die Bezahlung etwa die Hälfte des Mindestlohns in Deutschland. Für alle Teilnehmenden war SALZ. TON. GRANIT. ein Nebenprojekt neben weiteren Aufträgen als Selbstständige oder anderen Teil- oder Vollzeit-Beschäftigungen. Zwei Teammitglieder haben sich zusätzlich zeitgleich um kleine Kinder gekümmert. Wie es leider typisch ist, waren alle Teilnehmenden überarbeitet, weil sie oft rund um die Uhr arbeiteten, und erlebten Phasen der Erschöpfung. Diejenigen, die von Institutionen angestellt wurden, hatten eine höhere finanzielle Sicherheit als die freiberuflichen Kurator_innen. Wirklich Urlaub zu nehmen war für alle eine Herausforderung. Viele Teilnehmenden haben auch in eigentlich freier Zeit an Online-Meetings teilgenommen und auf E-Mails geantwortet oder in ihrem Urlaub ausgeholfen, wenn es den ein oder anderen Notfall gab. Das Team hat das Projekt in der Zeit zwischen dem 20. Dezember 2023 und dem 12. Februar 2024 kollektiv pausiert, aber die meisten Mitglieder haben ihre persönliche Nachhaltigkeit während des Projekts trotzdem als unzureichend eingestuft. Der arbeitsbezogene Stress hat oft die physische und psychische Gesundheit, persönliche Beziehungen und insgesamt das Wohlbefinden der Befragten beeinflusst. Diese Belastungen haben sich auch auf den sozialen Zusammenhalt der Gruppe ausgewirkt, weil sie auf der ungleichen Verteilung der unterbezahlten Arbeit auf Mitglieder mit verschiedenen Lebensgeschichten, Lebenssituationen und Fähigkeiten beruhten. Durch unvorhergesehene Umstände wie Krankheiten und parallele Arbeitsverpflichtungen kam zusätzlicher Druck hinzu.
Unter diesen Umständen hat die Gruppe gelegentlich andere Nachhaltigkeits-Dimensionen als die ökologische priorisiert. Zum Beispiel haben wir Privat-Autos für Recherche-Reisen in abgelegene Dörfer genutzt, um Zeit und Geld zu sparen. Während der Produktionsphase haben wir uns manchmal für uns bekannte Materialien und Methoden entschieden, anstatt zusätzlichen Aufwand in die Recherche und das Testen von klimaneutralen Alternativen zu investieren. Trotz dieser Herausforderungen und den damit verbundenen persönlichen Schwierigkeiten haben wir nie ernsthaft darüber nachgedacht, das Ausmaß des Projekts zu verringern, um unsere Arbeitsbelastung zu reduzieren. Im Gegenteil: Unser Enthusiasmus hat uns oft dazu verleitet, neue Themen auszukundschaften und damit letztendlich die Anzahl der Auftragsarbeiten für die Ausstellung von 7 auf 9 zu erhöhen. Wir fühlten uns weiterhin veranlasst, professionelle, detailgenaue Arbeit zu leisten und dabei die kuratorischen Verpflichtungen zu erfüllen, haben dabei jedoch unser eigenes Wohlbefinden vernachlässigt – ein beständiges Problem im kuratorischen Berufsumfeld, das kritische Reflektion und ein Umdenken benötigt.