Aus Neugier extra graben – Im Dialog mit Schüler:innen der 11. Klasse
Yvonne Anders
25/02/19
nGbK
Ein Vermittlungsangebot der nGbK zum Ausstellungsprojekt SALZ.TON.GRANIT
Schüler:innen einer 11. Klasse der Evangelischen Schule Mitte, die derzeit an einem fächerübergreifenden Projekt zum Thema Macht der Geografie arbeiten, besuchten die Ausstellung SALZ.TON.GRANIT in der nGbK. Die zwei engagierten Lehrkräfte der Leistungskurse Kunst und Geografie betrachteten das Forschungsprojekt als wertvolle Inspirationsquelle – eine Einschätzung, die sich im Verlauf des Besuchs als erfolgreich erwies.
Die Herausforderung bestand nun darin, den komplexen Themenbereich eines umfangreichen Forschungsprojekts in wenigen Worten einer Schüler:innengruppe zugänglich zu machen. Im Verlauf des Rundgangs im Dialog mit den Teilnehmenden lösten sich diese Bedenken auf – viele Fragen und Anmerkungen zeugten von enormen Interesse. Die anschließende Möglichkeit, die Ausstellung individuell zu erkunden und ins Gespräch mit Can Mileva Rastovic und mir zu kommen, bot Raum für weitere Detailfragen.
Die Abbildungen für diesen Blogbeitrag sind Aufzeichnungen, die die Schüler:innen während ihres Ausstellungsbesuchs anfertigten. Inspiriert von Katarina Ševićs Arbeit Something Man-Made Is Here hielten sie ihre Eindrücke mittels Symbolen fest – als Gedächtnisstütze und alternative Kommunikationsform.
Meine folgende Schilderung der dialogischen Führung basiert sowohl auf Gesprächen mit der gesamten Gruppe als auch auf individuellen Unterhaltungen.

Die sechseckigen, an Brennstäbe erinnernden Keramiken der Künstlerinnen Csilla Nagy & Rita Suveges boten einen idealen Ausgangspunkt für eine kurze Einführung in den Aufbau und die Funktionsweise eines Atomkraftwerks. Kuratorische Beiträge wie eine Infografik zum ungarischen Kernkraftwerk Paks sowie im Raum verteilte Brennstabmodelle veranschaulichten das Thema. Die Schüler:innen assoziierten die Keramiken sofort mit Bohrkernen und stellten – in Sichtweite von originalen Bohrhämmern aus dem Uranabbau – eine Verbindung zum für die Kernspaltung benötigten Uran her. (bezogen auf die Installation Pech und Blende von Anna Alenso)
Das Material des gebrannten Tons führte uns direkt zu zentralen Fragen: Was wird in einer Million Jahren noch von uns auf diesem Planeten zu finden sein? Wie wollen wir den Planeten hinterlassen?
Die Diskussion über die unvorstellbar lange Halbwertszeit von radioaktivem Atommüll setzten wir bei Katarina Ševićs Arbeit über Atomsemiotik fort: Wie können wir in einer Million Jahren jemanden davor warnen, an bestimmten Orten zu bohren oder zu graben? Ein Schüler schlug vor, die Landschaft über einem Endlager wie einen Totenkopf zu gestalten. Andere argumentierten dagegen: In einer so weit entfernten Zukunft sei es ungewiss, ob „die“ überhaupt noch wüssten, was ein menschlicher Schädel bedeutet.
Ein weiterer Vorschlag, Warnzeichen in große Steine einzugravieren, wurde kritisch hinterfragt: Welche Zeichen würden dann noch verstanden? Eine Schülerin gab zu bedenken, dass Warnsysteme auch das Gegenteil bewirken könnten – intelligente und wissbegierige Wesen würden aus Neugier vielleicht gerade deshalb extra graben.
Auf die Frage, ob es je sichere Orte für Atomkraftwerke oder Endlager geben könne, verwiesen einige Schüler:innen auf Fukushima, Tschernobyl und die aktuelle Sicherheitslage eines Atomkraftwerks in der Ukraine.
Das 1990 stillgelegte Kernkraftwerk Rheinsberg, nur 1,5 Autostunden von Berlin entfernt, war der Gruppe nicht bekannt. Ich berichtete anhand von Marike Schreibers Arbeit Oh strahlender Stechlin von einer Exkursion mit der Künstlerin zum Werkstor des KKW, das sich am Stechlinsee im Naturschutzgebiet Stechlin befindet. Die Bar-Skulptur, die unter anderem die Form des Stechlinsees aufnimmt, rief emotionale Reaktionen hervor: Einige Schülerinnen waren dort schwimmen gewesen und fanden die Landschaft sehr schön. Ein anderer Schüler erwähnte, dass er auch in einer an einem See gelegenen Kleinstadt bei Berlin wohnt. Dass das KKW aufgrund des Kühlkreislaufs einst das Wasser des Sees um 10 Grad erwärmte, was sich auf das Ökosystem des Sees auswirkte, stellte wohl einen irritierenden Kontrast zur idyllischen Landschaftserfahrung dar. In Betrachtung der Skulptur führten wir uns den von der Künstlerin thematisierten Wasserempfang vor Augen, den der Pfarrer Reinhard Dalchow in den 80er Jahren in der Gegend mit initiierte, um auf Umweltverschmutzung und die Bedeutung von sauberem Trinkwasser hinzuweisen.
Atomkraft – Ja bitte oder nein danke? Mein Hinweis auf den 1975 von der 22jährigen Studentin Anne Lund entworfenen „Atomkraft? Nein Danke!“-Sticker* löste bei zwei Schülerinnen spontane Statements aus: Sie würden ebenfalls gegen ein geplantes Endlager in ihrer Wohngegend protestieren. Aber wohin dann mit dem Atommüll? Darüber waren wir uns im Gespräch zu dritt einig: Eine Antwort, also einen Ort für eine sichere Endlagerung gibt es bis heute nicht. Die in der Videoinstallation Tanz auf dem Vulkan von Anna Witt thematisierten Gorleben-Proteste waren einigen Schüler:innen kein Begriff mehr, die ins Ausstellungsdisplay integrierten gelben X wurden eher mit heutigen Klimaprotesten assoziiert. *kuratisches Material
Und wie geht es weiter? Fortschritt – ja, aber zu welchem Preis?
Inwiefern können wir der Wissenschaft vertrauen, z.B. bezüglich aktueller Kenntnisse zur noch wenig erforschten Kernfusion? Diesen Fragen näherten wir uns anhand der Videooper Prometheus Unbound, Total Sacrifice. For Three Voices, Sung Sadly but with Vigor von Andras Csefalvay. Wir mischten uns in die Debatte ein, welche die Figur des „Prometheus“ in der Videoarbeit über die neueste Technik der „Kernfusion“ mit den zwei anderen Figuren Asia und Cosmia in der Oper führt.
Was sind die Argumente gegen und spricht irgendetwas für Atomkraft? Welche Alternativen haben wir? Angelehnt an das fächerübergreifende Thema Macht der Geografie rissen wir kurz an, aus welchen Argumentationen heraus Deutschland und weitere Länder den Atomausstieg beschlossen haben, während andere Länder neue Atomkraftwerke planen und bauen. Die Schüler:innen begannen, geografisch bedingte Möglichkeiten zur Energieerzeugung zusammenzutragen und Abhängigkeiten von anderen Ländern, was Ressourcen zur Energiegewinnung betrifft, zu hinterfragen. Auch über Gründe, warum einige Orte gegen eine Zwischen- oder gar Endlagerung jahrzehntelang heftig protestieren, andere Orte sich hingegen darum bemühen, Standort für den Bau eines Endlagers zu werden, wurde spekuliert. Die Kulisse der Videooper, die in Teilen das Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle im ungarischen Bátaapáti abbildet, welches 2005 in einer Volksabstimmung beschlossen wurde, bildete zugleich den Hintergrund unserer Diskussion.
Zum Abschluss betrachteten wir die Aufzeichnungen der Schüler:innen: Totenschädel, verendete Tiere, intakte versus zerstörte Natur, Brennstäbe, Explosionen – und immer wieder der Wasserempfang. Besonders interessant: Der oben erwähnte Schüler aus einer Kleinstadt am See zeichnete den Kirchturm in Bátaapáti, der in der Videoarbeit Sich Zeit nehmen zu sehen ist – ich lese das als weiteres Indiz dafür, wie stark die Umweltthematik auf das eigene Lebensumfeld bezogen wird.

Der Geografielehrer verabschiedete sich mit ersten Ideen für eine lyrisch-theatrale Aufbereitung des Themas. Eine Schülerin meinte: Schade, dass wir hier nicht gleich einen ganzen Projekttag gemacht haben. Finden wir auch!
Es gab so viel Gesprächsstoff bei der informellen Betrachtung der Arbeiten – etwa zu den Bohrhämmern in der Installation "Pech und Blende" von Anna Alenso und der ängstlichen Nachfrage, ob im Ausstellungsraum eine bedenkliche radioaktive Strahlung vorhanden sei. Ebenso war die Funktionsweise und Verlässlichkeit des in der Ausstellung ausliegenden Messgeräts für Radioaktivität von Interesse. Auch Fragen, ob der Salzstein in der Installation 50 Millionen < – > 1 Million (Dieses eine Leben) von Sonya Schönberger auch salzig schmecke und die Salzhalden in Morsleben tatsächlich bis heute im Ort aufgeschüttet sind, beschäftigten die Besucher:innen.
In Kombination mit unserem Vermittlungsangebot, das von der SALZ.TON.GRANIT-Forschungsgruppe in ausführlicher Textarbeit bereitgestellte Wissen für eine Zielgruppe und Besuchsdauer aufzubereiten, wurde die thematische Komplexität in kurzer Zeit erstaunlich greifbar. Unterstützt wurde dies vor allem auch durch diverse im Ausstellungsraum präsente Visualisierungen, Geräte, Werkzeuge, Modelle und Materialien wie Salz, Ton und Granit.
Vielen Dank an das kuratorische Team, die beteiligten Lehrkräfte und Schüler:innen sowie Can Mileva Rastovic, im Vorstand der nGbK und verantwortlich für die Vermittlungsstrategie am neuen Standort am Alexanderplatz.


